Es ist nicht meine Absicht, alle Mängel des heutigen Regimes in Rußland aufzuzählen; einige seiner Mißerfolge sind sicherlich vorübergehender Natur, andere verlieren sich angesichts der vielfachen Vorteile, die der Kommunismus dem russischen Volk gebracht hat. Aber selbst wenn das System reibungslos funktionieren würde, stünde es immer noch in vollkommenem Gegensatz zu den Grundsätzen des Anarchismus. Denn ein wesentliches Merkmal der politischen Wirklichkeit des Kommunismus, wie er sich in Rußland entwickelt hat, ist das Führerprinzip, ein Konzept, das er - heben wir dies ruhig einmal hervor - mit dem Faschismus gemeinsam hat. Es ist sicherlich möglich, daß besondere Wirtschaftsbedingungen Männern der Vorsehung wie Lenin und Stalin, Hitler und Mussolini übermäßige Bedeutung zukommen lassen. Aber welche Gründe hier auch immer eine Rolle spielen mögen, weder Kommunismus noch Faschismus bezweifeln jemals, daß solche Führer notwendig, ja sogar wünschenswert sind. Sie werden als Schöpfer und machtvolle Träger derjenigen politischen Bewegungen gepriesen, an deren Spitze sie stehen. Freud hat dargestellt, welch wichtige Rolle der Führer in der Psychologie der Gruppe spielt: „Der unheimliche, zwanghafte Charakter der Massenbildung, der sich in ihren Suggestionserscheinungen zeigt, kann also wohl mit Recht auf ihre Abkunft von der Urhorde zurückgeführt werden. Der Führer der Masse ist noch immer der gefürchtete Urvater, die Masse will immer noch von unbeschränkter Gewalt beherrscht werden, sie ist im höchsten Maße autoritätssüchtig, hat nach Le Bons Ausdruck den Durst nach Unterwerfung.“ [1] Was den Führer selbst anbetrifft, so war er „zu Eingang der Menschheitsgeschichte ... der Übermensch, den Nietzsche erst von der Zukunft erwartete. Noch heute bedürfen die Massenindividuen der Vorspiegelung, daß sie in gleicher und gerechter Weise vom Führer geliebt werden, aber der Führer selbst braucht niemand anderen zu lieben, er darf von Herrennatur sein, absolut narzißtisch, aber selbstsicher und selbständig.“ [2]

Ich würde den Anarchisten nun als einen Menschen definieren, der es als Erwachsener wagt, sich der väterlichen Autorität zu widersetzen; der sich nicht mehr damit begnügt, sich von blinder, unbewußter Identifizierung des Führers mit dem Vater und verdrängten Instinkten, die allein eine solche Identifizierung ermöglichen, leiten zu lassen. Freud, der hier nur die Gedanken Otto Ranks aufgreift, sieht den Ursprung des Heldenmythos in solch einem Verlangen nach Unabhängigkeit. „Damals mag die sehnsüchtige Entbehrung einen einzelnen bewogen haben, sich von der Masse loszulösen und sich in die Rolle des Vaters zu versetzen. Wer dies tat, war der erste epische Dichter, der Fortschritt wurde in seiner Phantasie vollzogen. Der Dichter log die Wirklichkeit um im Sinne seiner Sehnsucht. Er erfand den heroischen Mythus. Heros war, wer allein den Vater erschlagen hatte, der im Mythus noch als totemistisches Ungeheuer erschien. Wie der Vater das erste Ideal des Knaben gewesen war, so schuf jetzt der Dichter im Heros, der den Vater ersetzen will, das erste Ich-Ideal.“ [3]

Aber mit dem nächsten Schritt, den der Anarchist jetzt vollzieht, läßt er Vorstellung und Mythus hinter sich, um zur Wirklichkeit und zum Handeln überzugehen. Er wird erwachsen, er erkennt die Autorität des Vaters nicht an, er lebt nach seinem Ich-Ideal. Er wird sich seiner Individualität bewußt.

Wie weit die Kommunisten davon entfernt sind, diesen nächsten Schritt in der menschlichen Entwicklung zu vollziehen, lassen nicht nur die historischen Ereignisse in Rußland, sondern auch ihre Theorien und Äußerungen erkennen. Es ist sicher nicht notwendig, die zahlreichen Lobeshymnen auf das Führerprinzip zu wiederholen, die mit monotoner Regelmäßigkeit in der kommunistischen Presse auftauchen ...

Die panische Angst vor dem Vater, die die psychologische Grundlage der Tyrannei bildet, ist gleichzeitig die Schwäche, die der Tyrann sich zunutze macht. Wir alle kennen das Schauspiel überlegener Brutalität, die gerade durch die Fügsamkeit des Opfers zu sadistischen Exzessen getrieben wird. Der Tyrann oder Diktator handelt entsprechend. Es ist psychologisch nicht vorstellbar, daß er anders handelte. Die einzige Alternative zum Führerprinzip ist das der Kooperation oder gegenseitigen Hilfe; nicht die Vater-Sohn-Beziehung, die von frühesten Zeiten an sich hartnäckig gehalten hat, sondern die Bruder-Bruder-Beziehung - in der Sprache der Politik gesprochen: der freie Zusammenschluß derjenigen, die für das gemeinsame Wohl arbeiten. Dies ist die Kerndoktrin des Anarchismus. Weder die marxistische Ökonomie noch die Errungenschaften der Sowjetunion haben sie aus den Angeln heben können; im Gegenteil, die letzten zwanzig Jahre haben ihr überwältigende Bestätigung gebracht, und heute können wir mit voller Berechtigung sagen, daß in der Verwirklichung des Bruder-Prinzips die einzige Hoffnung unserer Zivilisation liegt.

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