Der Ausdruck „Arbeiter-Syndikat“ meinte in Frankreich ursprünglich nur eine gewerkschaftliche Produzentenorganisation zur mittelbaren Verbesserung ihres ökonomischen und sozialen Status. Aber das Aufkommen des revolutionären Syndikalismus gab dieser ursprünglichen Bedeutung einen viel weiteren und tieferen Sinn. So wie die Partei sozusagen die vereinheitlichte Organisation zum Zwecke der Erreichung bestimmter politischer Ziele innerhalb des modernen konstitutionellen Staates ist und die bürgerliche Ordnung in dieser oder jener Form aufrechtzuerhalten sucht, so ist, in syndikalistischer Sicht, die Gewerkschaft, das Syndikat die vereinheitlichte Organisation der Arbeit und hat es sich zum Ziel gesetzt, die Interessen der Produzenten innerhalb der bestehenden Gesellschaft zu verteidigen und die Rekonstruktion des sozialen Lebens nach sozialistischem Modell vorzubereiten und praktisch durchzuführen. Sie hat daher einen doppelten Zweck:
- Als Kampf Organisation der Arbeiter gegen die Unternehmer soll sie die Forderungen der Arbeiter nach Sicherung und Hebung ihres Lebensstandards bekräftigen;
- Als Schule für die intellektuelle Ausbildung der Arbeiter soll sie sie mit der technischen Organisation der Produktion und des ökonomischen Lebens im allgemeinen vertraut machen, damit sie im Falle einer revolutionären Situation fähig sind, den sozio-ökonomischen Apparat in die eigene Hand zu nehmen und ihn gemäß sozialistischen Prinzipien umzugestalten ... Erziehung zum Sozialismus bedeutet ihnen nicht billige Propagandakampagne zu sog. „tagespolitischen Problemen“, sondern den Versuch, den Arbeitern die inneren Beziehungen zwischen den sozialen Problemen klarzumachen und sie durch technische Ausbildung und Entwicklung ihrer administrativen Fähigkeiten auf ihre Rolle als Neugestalter des ökonomischen Lebens vorzubereiten und ihnen die zur Ausführung dieser Aufgabe erforderliche moralische Unterstützung zu geben. Keine Körperschaft ist für diesen Zweck besser geeignet als die ökonomische Kampforganisation der Arbeiter, sie verleiht ihren sozialen Aktivitäten eine konkrete Richtung und stärkt ihren Widerstand im unmittelbaren Kampf um das Lebensnotwendige und in der Verteidigung der Menschenrechte. Dieser direkte und endlose Kriegszustand mit den Trägern des gegenwärtigen Systems läßt gleichzeitig die ethischen Vorstellungen entstehen, ohne die eine gesellschaftliche Transformation unmöglich ist: eine vitale Solidarität mit ihren Schicksalsgenossen und moralisches Verantwortungsbewußtsein für das eigene Tun.
Gerade weil die Erziehungsanstrengungen der Anarcho-Syndikalisten auf die Entwicklung unabhängigen Denkens und Handelns gerichtet sind, sind sie ausgesprochene Gegner aller zentralisierenden Tendenzen, die so charakteristisch für die politischen Arbeiterparteien sind. Aber Zentralismus, jene künstliche Organisation von oben nach unten, die die Angelegenheiten aller in Bausch und Bogen an eine kleine Minderheit delegiert, ist immer von leerlaufender bürokratischer Routine begleitet; und das zermalmt jede individuelle Überzeugung, tötet alle persönliche Initiative durch Disziplin und bürokratische Verknöcherung und erlaubt keinerlei unabhängige Aktion: Die Organisation des Anarcho-Syndikalismus richtet sich nach den Prinzipien des Föderalismus, nach freier Vereinigung von unten nach oben, stellt das Recht jedes Mitglieds auf Selbstbestimmung über alles und anerkennt nur ein organisches Einvernehmen aller auf der Basis gleicher Interessen und gemeinsamer Überzeugungen.
Es wurde dem Föderalismus oft vorgeworfen, er zersplittere die Kräfte und lähme die Kraft des organischen Widerstands ... Aber auch hier haben die Tatsachen, die das Leben schuf, ein klareres Wort gesprochen als jede Theorie. Es hat auf der ganzen Welt kein Land gegeben, in dem die gesamte Arbeiterbewegung so vollkommen zentralisiert und die Organisationstechnik zu solch extremer Perfektion entwickelt war wie in Deutschland vor der Machtergreifung Hitlers. Ein mächtiger bürokratischer Apparat überzog das ganze Land und bestimmte jeden politischen und ökonomischen Ausdruck der organisierten Arbeiter. Bei den letzten Wahlen vereinigten die sozialdemokratische und die kommunistische Partei über zwölf Millionen Wähler hinter ihren Kandidaten. Aber nachdem Hitler an die Macht gelangt war, rührten sechs Millionen organisierter Arbeiter nicht einen Finger, um die Katastrophe abzuwehren, die Deutschland in den Abgrund stürzte und die innerhalb weniger Monate die Arbeiterorganisationen vollkommen zerschlug.
In Spanien aber, wo der Anarcho-Syndikalismus seinen Einfluß auf die organisierten Arbeiter seit den Tagen der Ersten Internationalen zu wahren wußte und sie durch unermüdliche libertäre Propaganda und heftiges Kämpfen im Widerstand trainiert hatte, war es die mächtige C(onfederacion) N(acional de) T(rabajadores), die durch die Kühnheit ihrer Aktion die verbrecherischen Pläne Francos zunichte machte ...
Für den Staat ist Zentralismus die geeignete Form der Organisation, da er um der Erhaltung des politischen und sozialen Gleichgewichts willen auf größtmögliche Uniformität des sozialen Lebens hinzielt. Aber für eine Bewegung, für die rasches Agieren im günstigen Augenblick und unabhängiges Denken und Handeln ihrer Träger Existenzfrage ist, kann Zentralismus nur von Übel sein, weil er ihre Kraft zur Entscheidung schwächt und alle unmittelbare Aktion systematisch unterdrückt. Wenn z. B., wie im Falle Deutschlands, jeder lokale Streik erst von der Zentrale bewilligt werden muß, die oft Hunderte von Meilen entfernt und normalerweise nicht in der Lage war, ein korrektes Urteil über die örtlichen Bedingungen zu fällen, darf man sich nicht darüber wundern, daß die Trägheit des Apparats der Organisation einen raschen Angriff unmöglich macht, und daraus resultiert dann ein Zustand der Dinge, bei dem die tatkräftigen und intellektuell regen Gruppen nicht länger Vorbild sind für die wenigen aktiven, sondern von diesen zur Inaktivität verurteilt werden, die notwendigerweise die gesamte Bewegung stagnieren läßt. Organisation ist schließlich und endlich nur ein Mittel zu einem Zweck. Wenn sie zum Zweck an sich wird, tötet sie den Geist und die lebendige Initiative ihrer Mitglieder und etabliert die Herrschaft der Mittelmäßigkeit, die für alle Bürokratien charakteristisch ist.
Die Anarcho-Syndikalisten sind daher der Meinung, daß gewerkschaftliche Organisation einen Charakter haben sollte, der es den Arbeitern erlaubt, das Äußerste in ihrem Kampf gegen die Unternehmer zu erreichen, und sie gleichzeitig mit einer Basis versieht, von der aus sie in einer revolutionären Situation an die Neugestaltung des ökonomischen und sozialen Lebens gehen können.
Ihre Organisation ist demgemäß nach folgenden Prinzipien konstruiert: Die Arbeiter jeder Gemeinde schließen sich den Vereinigungen ihrer jeweiligen Berufe an, und diese sind keinem Veto ihrer Zentrale unterworfen, sondern genießen das volle Recht der Selbstbestimmung. Die Gewerkschaften einer Stadt oder eines Landkreises vereinigen sich im sog. Arbeiterkartell. Die Arbeiterkartelle sind Zentren lokaler Propaganda und Erziehung; sie schweißen die Arbeiter zur Klasse zusammen und verhindern das Aufkommen irgendeines engstirnigen Fraktionsgeistes. In Zeiten lokaler Arbeiterunruhen arrangieren sie die solidarische Kooperation des gesamten Körpers organisierter Arbeit in der Ausnutzung aller unter den gegebenen Umständen verfügbaren Mittel. Alle Arbeiterkartelle sind nach Distrikten und Regionen gruppiert und bilden die Nationale Föderation der Arbeiterkartelle, die den permanenten Kontakt zwischen den lokalen Organisationen aufrechterhalten soll, die die freie Ausrichtung der produktiven Arbeit der Mitglieder der verschiedenen Organisationen auf die Linie der Kooperation arrangiert und die für die notwendige Koordination im Werk der Erziehung sorgt, bei dem die stärkeren Kartelle den schwächeren werden zu Hilfe kommen müssen. Die Nationale Föderation der Arbeiterkartelle steht den lokalen Gruppen auch ganz allgemein beratend und lenkend bei. Jede Gewerkschaft ist überdies mit allen Organisationen desselben Berufszweiges im ganzen Lande föderativ verbunden und diese wiederum mit allen verwandten Berufszweigen, so daß sie alle in allgemeinen industriellen Allianzen zusammengeschlossen sind. Es ist die Aufgabe dieser Allianzen, die kooperative Aktion der lokalen Gruppen zu organisieren, Solidaritätsstreiks zu führen, wenn die Notwendigkeit hierfür gegeben ist und allen Anforderungen des Tag-zu-Tag-Kampfes zwischen Arbeit und Kapital zu begegnen. So bilden also die Föderation der Arbeiterkartelle und die Föderation der Industriellen Allianzen die beiden Pole, um die sich das gesamte Leben der Gewerkschaften dreht.
Diese Art der Organisation bietet den Arbeitern nicht nur jede Gelegenheit für direkte Aktion in den Kämpfen ums tägliche Brot, sie versieht sie auch mit den notwendigen Voraussetzungen für die Durchführung der Reorganisation des sozialen Lebens nach sozialistischem Plan, die sie dann im Falle einer revolutionären Krise aus eigener Kraft und ohne fremde Einmischung bewerkstelligen können. Anarcho-Syndikalisten sind überzeugt, daß eine sozialistische Wirtschaftsordnung nicht durch Regierungsdekrete und Statuten geschaffen werden kann, sondern ausschließlich durch die solidarische Zusammenarbeit der manuellen und geistigen Arbeiter aus jedem Spezialzweig der Produktion; d. h. durch die Übernahme des Managements aller Betriebsanlagen durch die Produzenten, und zwar in einer solchen Form, daß die verschiedenen Gruppen, Anlagen und Zweige der Industrie unabhängige Mitglieder des allgemeinen Wirtschaftskörpers sind, die die Produktion systematisch vorantreiben und die Distribution der Produkte im Interesse der Allgemeinheit auf der Basis freier gegenseitiger Abmachungen vornehmen. In diesem Fall würden die Arbeiterkartelle in jeder Gemeinde das vorhandene gesellschaftliche Kapitalgut an sich nehmen, die Bedürfnisse der Einwohner des Distrikts bestimmen und den lokalen Verbrauch organisieren. Durch die Tätigkeit der nationalen Föderation der Arbeiterkartelle würde es möglich, die gesamten Bedürfnisse des Landes zu berechnen und die Produktion ihnen anzupassen. Andererseits wäre es Aufgabe der Industriellen Allianzen, die Kontrolle über alle Produktionsmittel, Maschinen, Rohmaterialien, Transportmittel und Ähnliches zu übernehmen und die verschiedenen Erzeugergruppen mit dem zu versorgen, was sie nötig haben. Fassen wir zusammen: