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Die Arbeiterbewegung kann, trotz all ihrer Verdienste und Möglichkeiten, nicht von sich aus eine revolutionäre Bewegung im Sinne einer Negation der juristischen und moralischen Grundlagen der gegenwärtigen Gesellschaft sein.
Sie kann, wie jede neue Organisation, dem Geiste ihrer Gründer und dem Buchstaben ihrer Satzung nach, die höchsten Ziele und die radikalsten Absichten verfolgen, wenn sie aber ihre Funktion als gewerkschaftliche Arbeitervereinigung, d. h. als Verteidiger der unmittelbaren Interessen ihrer Mitglieder erfüllen will, muß sie de facto jene Institutionen anerkennen, die sie theoretisch ablehnt. Sie muß sich den Umständen anpassen und versuchen, Schritt für Schritt so viel zu erreichen als irgend möglich, indem sie mit den Bossen und der Regierung verhandelt und sich auf Kompromisse einläßt.
Kurz, die Gewerkschaften sind ihrer Natur nach reformistisch, niemals revolutionär. Der revolutionäre Geist muß in sie hineingetragen, entwickelt und erhalten werden, und zwar durch die permanente Aktion von Revolutionären, die sowohl von innen als auch von außen auf sie einwirken. Aber die normale und natürliche Definition der Funktion der Gewerkschaften kann die Revolution nicht sein. Im Gegenteil, die wahren und unmittelbaren Interessen der organisierten Arbeiter, die zu verteidigen der Rolle der Gewerkschaften entspricht, geraten sogar sehr oft in Konflikt mit ihren Idealen und ihren langfristigen Zielen; und die Gewerkschaft kann nur dann auf eine revolutionäre Weise handeln, wenn sie durchdrungen ist von einem Geist der Opferbereitschaft, und nur insoweit als dem Ideal der Vorrang vor dem Interesse gegeben wird, d. h. nur wenn und insoweit sie aufhört, eine wirtschaftliche Vereinigung zu sein und zu einer politischen und idealistischen Gruppe wird. Und das ist nicht möglich in den großen Gewerkschaften, die, um handeln zu können, des Beifalls der Massen bedürfen, die immer mehr oder weniger egoistisch, furchtsam und rückständig sind.
Und das ist noch nicht einmal der schlimmste Aspekt der Situation. Die kapitalistische Gesellschaft ist so gebaut, daß, allgemein gesprochen, die Interessen jeder Klasse, jeder Schicht, jedes Individuums mit denen jeder anderen Klasse, jeder anderen Schicht, jedes anderen Individuums in Konflikt geraten. Und im täglichen Leben stößt man auf die kompliziertesten Ausbalancierungen von Harmonie und Interessenkonflikten zwischen Klassen und Individuen, die, vom Standpunkte sozialer Gerechtigkeit aus geurteilt, immer Freunde oder immer Feinde sein sollten. Und trotz der vielgerühmten Solidarität des Proletariats geschieht es häufig, daß die Interessen einer Schicht von Arbeitern denen einer anderen Schicht entgegengesetzt sind, hingegen mit denen einer bestimmten Schicht von Unternehmern harmonieren; und es kommt außerdem vor, daß, der ersehnten internationalen Brüderschaft zum Trotz, die gegenwärtigen Interessen der Arbeiter eines Landes sie ihren kapitalistischen Landsleuten verbinden und in Feindschaft zu ausländischen Arbeitern geraten lassen. Um ein Beispiel anzuführen, möchten wir auf die Interessenlage der verschiedenen Arbeiterorganisationen bezüglich der Frage der Tarife und der Zollschranken hinweisen, sowie auf die freiwillige Rolle, die die arbeitenden Massen in den Kriegen zwischen kapitalistischen Staaten spielen.
Die Reihe der Antagonismen ist unendlich - Antagonismus zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber, Männern und Frauen, einheimischen und Gast-Arbeitern, zwischen Arbeitern, die öffentliche Dienste in Anspruch nehmen, und jenen, die in öffentlichen Dienstleistungsbetrieben arbeiten, zwischen jenen, die ein Handwerk verstehen, und jenen, die es zu erlernen begehren. Besondere Aufmerksamkeit aber möchte ich auf das Interesse lenken, das Arbeiter, die in der Luxusproduktion beschäftigt sind, am Blühen und Gedeihen der reichen Klassen haben, sowie auf das Interesse einer ganzen Anzahl von Arbeiterschichten verschiedener Örtlichkeiten, Beschäftigung zu erhalten, selbst wenn sie auf Kosten anderer Örtlichkeiten geht und einer der Allgemeinheit nützlichen Produktion abträglich ist. Und was sollte gesagt werden über jene, die in Industriezweigen tätig sind, die der Gesellschaft und den Individuen zum Schaden gereichen, wenn sie keine andere Möglichkeit haben, ihr Brot zu verdienen? Geht nur einmal hin und versucht in normalen Zeiten, wenn kein Glaube an eine bevorstehende Revolution wach ist, die Arbeiter in den Rüstungsfabriken, die von Arbeitslosigkeit bedroht sind, zu überreden, nicht den Bau neuer Kriegsschiffe von der Regierung zu fordern! Und versucht, mit gewerkschaftlichen Mitteln und dem Ziel, allen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, die Konflikte zu lösen zwischen den Dockarbeitern, die keine andere Möglichkeit haben, die Grundlage ihrer Existenz zu sichern, als die Monopolisierung aller verfügbaren Arbeit für jene, die schon seit langem auf den Docks arbeiten und zwischen den Neuankömmlingen, den „Gelegenheitsarbeitern“, die auf ihr Recht auf Arbeit und Leben pochen! All das und noch viel mehr, das angeführt werden könnte, zeigt, daß die Arbeiterbewegung als solche, ohne das Ferment der sich kurzfristigen Arbeiterinteressen widersetzenden revolutionären Imagination, ohne die Kritik und die Impulse von Seiten der Revolutionäre, weit davon entfernt ist, zu einer Transformation der Gesellschaft zum allgemeinen Besten zu führen, sondern vielmehr dazu neigt, den Gruppenegoismus zu ermuntern und eine Klasse privilegierter Arbeiter zu schaffen, die auf den Schultern der großen Masse der „Enterbten“ lebt.
Und das erklärt das allgemeine Phänomen, daß in allen Ländern Gewerkschaftsorganisationen, nachdem sie stark und mächtig geworden waren, konservativ und reaktionär wurden. Jene aber, die der Arbeiterbewegung ehrlich dienten, immer den Traum von einer Gesellschaft vor Augen, die Wohlstand und Gerechtigkeit für alle kennt, sind, wie Sisyphus, dazu verdammt, immer wieder von vorne zu beginnen.